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Dipl. Theol. Dirk Sondermann


Notwendigkeit und Praxis exakter Lokalisierung sagenhafter Stätten



Sagen beinhalten meistenteils keine genauen Angaben zur Lokalisierung der Orte des überlieferten Geschehens. Dies liegt zum einen an der zugrunde liegenden Erzählsituation, in der weitschweifige Erläuterungen zum Ort den Erzählvorgang stören würden. Zum anderen ist dem Erzähler der Ort der Handlung in der Regel bekannt, gleiches wird er beim Hörer voraussetzen, so dass es dem Erzähler nicht notwendig erscheint, die Örtlichkeit näher zu definieren; »man versteht sich«. Problematisch wird es bei einer Verschriftung der Überlieferungen. Dem Leser von Sagensammlungen ist der Ort des Geschehens oft unbekannt, zumal wenn er aus einer anderen Gegend stammt und/oder verschiedene gleichnamige Orte existieren.
Die relevanten Sagenpublikationen des 19. Jahrhunderts waren in der Nachfolge der Brüder Grimm bemüht, Volksüberlieferungen zu dokumentieren, bevor das Erzählgut im Zuge der damaligen rasanten gesellschaftlichen Umwälzungen in Vergessenheit geraten wäre. In der Folgezeit wurden Volksüberlieferungen weiterhin dokumentiert, später systematisiert, katalogisiert, doch selten oder nicht exakt lokalisiert. Natürlich gab es Ausnahmen von der Regel. Für das Ruhrgebiet und seine Umgebung führte schon Bahlmann: Ruhrtalsagen (2. Aufl. Dortmund 1922) vereinzelt exakte Orts- und Straßenbezeichnungen an. Neuere Veröffentlichungen sind mitunter problembewusster. Seit der Mitte der 90er Jahre bieten u. a. »Die Schwarzen Führer« ( Freiburg i. Br.) Sagenextrakte dar, die häufig mit genauen Ortsangaben aufwarten. Aber auch in diesen Publikationen wird zumeist nur die Stätte der Haupthandlung einer Sage hinreichend bestimmt.
Hinzu kommt das Problem, dass Straßennamen relativ unbeständig sind. In der Geschichte wurden aus Bismarck-Plätze nach 1933 Adolf Hitler Plätze und nach 1945 August-Bebel-Plätze. Sicherlich werden sich zukünftige Straßenumbenennungen auch in der Folgezeit anhand von Ortsplänen zurückverfolgen lassen. Schwieriger wird die Situation jedoch, wenn Straßen verlegt werden oder sagenhafte Örtlichkeiten abgerissen und die Flächen bebaut werden. Dies geschah gerade im Ruhrgebiet durch Kriegseinwirkung und Flächensanierung häufig. Nicht selten werden sich dadurch auch in Zukunft Orte sagenhaften Geschehens nur schwerlich zurückverfolgen lassen. Daher ist es sinnvoll, vermehrt auf die zur Verfügung stehenden elektronischen Hilfsmittel zurückzugreifen. Ortsbestimmungen per Satellitennavigation garantieren seit etwa zehn Jahren eine präzise und dauerhafte Lokalisierung sagenhafter Stätten ( gegenwärtig mit einer Toleranz von etwa 10 Metern ). Selbst wenn diese Stellen in Zukunft nachhaltig verändert werden sollten, lassen sie sich bei Verwendung eines entsprechenden Gerätes problemlos wiederfinden. Auch wird die Aufsuche solcher Orte in naher Zukunft erleichtert werden, da die Koordinaten auch in gängige Satellitennavigationssysteme der PKW einspeisbar sein werden, so dass der Fahrer ohne das Studium eines Stadtplans sicher zu der betreffenden Stelle geleitet werden kann. In spätestens zehn Jahren wird wohl jeder neue Kleinwagen mit einem solchen System ausgestattet sein. Selbst einige Handys verfügen schon über ein integriertes GPS-System.
Es ist sinnvoll, nicht nur die Stätte der Haupthandlung einer Sage, sondern möglichst alle in einer Sage angeführten Loci ( Orte, Kirchen, Flurbezeichnungen, Gebäude usw. ) per Satellitennavigation einzumessen. Dies kann ohne besonderen Aufwand mittels eines handygroßen Gerätes, fast so einfach wie das Telefonieren, erfolgen. Mitunter ist es auch schon möglich, GPS-genaues Kartenmaterial per ( ADAC- ) Stadtplan, Internet oder Diskette zu verwenden und die Einmessungen am PC vorzunehmen. Arbeitsintensiv ist weniger das Einmessen der Örtlichkeiten, als die genaue Lokalisierung derselben mittels ( historischen ) Stadtplans, anhand von Katasterkarten und/oder per Recherche vor Ort.
Häufig können Kreis- und Ortsheimatpfleger oder Heimatvereinsvorsitzende exakte Hinweise zur Lokalisierung geben. Die Kontaktaufnahme zu den Fachleuten vor Ort kann in Westfalen über den Hyperlink www.westfaelischerheimatbund.de erfolgen. Klicken Sie auf der oberen Serviceleiste ``Portal´´ an. Klicken Sie anhand der nun erscheinenden Westfalenkarte Ihren gesuchten Kreis an, und schon erscheint eine Liste der sachkundigen Kreis- und Ortsheimatpfleger oder Vereinsvorsitzenden. Leider ist dieser vorbildliche Service nicht in Rheinland und schon gar nicht bundesweit verfügbar.


Exkurs: Wandermotive/Wandersage
Zur Deutung ungewöhnlichen Geschehens wurden gewöhnliche Deu­tungsmuster ( Wandermotive ) verwendet. So kann die Lokalisierung einer Sage in der Regel relativ, nicht aber absolut erfolgen, da meist Wander­sagen vorliegen, die sich inhaltlich an anderen Orten wiederholen, jedoch in ihrem jeweiligen lokalen Bezug exakt ver­ortet werden können. Die Verortung von Sagen führt vereinzelt zu er­staunlichen Ergebnissen: »Gold- und Schatzfeuersagen verraten oft mehr, als gemeinhin vermutet wird. Bei der Annahme Otto Preins, in Oberaden liege eine römische Befestigung, spielte eine Goldfeuersage eine große Rolle.« ( H. G. & G. Palme, Sagen vom Hellweg, 2. Aufl. Schwerte 1987, S. 131 ).
Eine exakte Lokalisierung von Sagen dient nicht nur dem sicheren Auffin­den von Orten sagenhaften Geschehens in Gegenwart und Zukunft, son­dern bietet auch die Basis für weitere ( fachübergreifende ) Forschungen. So hat Prof. Dr. Wolfhard Schlosser vom Astronomischen Institut der Ruhr - ­Universität Bochum anhand der im Bochumer Sagenbuch lokalisierten und von ihm per WGS-84 ( World Geodetic System 1984 ) eingemessenen Orte auf der »Bochumer Sagenkarte«, »die Verteilung der Sagen in einer Kleinregion ( ca. 350 km2 ) detailliert aufgeführt« und kam zu dem Re­sultat: »Zwei >Sagengürtel< lassen sich ausmachen. Der westliche zieht sich von Wattenscheid über Dahlhausen/Linden an die Ruhr. Der östliche begleitet den Hellweg von Riemke über Harpen in Richtung Langendreer. Letzterer ist durch zwei Begleitumstände interessant. Zum einen häufen sich in diesem Gebiet die prähistorischen Funde im Bochumer Stadtge­biet. Zum anderen ist das Bockholt in Harpen noch heute zentraler Punkt des Bochumer Maiabendfestes, in dessen Nähe das bekannte Bochumer Denkmal ( der Harpener Kreisgraben ) lag.« ( W. Schlosser, Die Bochumer Sagenkarte, in: D. Sondermann, Bochumer Sagenbuch, 3. Aufl., Essen 2003, S. 218f. )
Die exakte Lokalisierung sagenhafter Stätten dient einer besseren wissen­schaftlichen Verwertbarkeit von Sagen:
1. Der Handlungsort einer Sage ist per GPS dauerhaft fixiert.
2. Verbreitungsprofile von Sagen ( siehe Schlosser ) werden ermöglicht.
3. Bewegungsprofile der in Sagen Agierenden werden ermöglicht.
4. Gezielte Nachforschungen, z.B. Grabungen, werden ermöglicht.
5. Die Sage wird »vor Ort« erfahrbar.

In Monografien sollten Orte sagenhaften Geschehens möglich präzise mit Land, Bundesland ( bei Doppelnamen, den betreffenden Landesnamen un­terstreichen ), ggf. Region, z. B. Ruhrgebiet ( Postleitzahl: fakultativ; dient dem zügigen Auffinden des Ortes bei Doppelnennungen im Autoatlas ), Stadt, Stadtteil, ggf. Kreis, Straße, Hausnummer und GPS-Koordinaten versehen werden. Falls sich diese Orte »im Grünen« befinden, sollten mittels einer Wegbeschreibung genaue Angaben zur Auffindung derselben gemacht werden. Die Ortsangaben werden den Sagen nachgesetzt oder per Anmerkung hinzugefügt. Die Entfernungen der Nebenorte zum Zentralort einer Sage können einschließlich des geografischen Bezugs zum Zentralort angegeben werden. Die auf diese Weise lokalisierten Stätten lassen sich auch für Ortsfremde exakt zurückverfolgen. Als Beispiel sei an dieser Stelle eine häufig publizierte Sage des Ruhrgebietes angeführt:


»Die Wittewiwerskuhle ( mündlich )
Am Tippelsberg bei Riemke liegt ein einzelner Bauernhof, auf dem jetzt der Bauer Thiem wohnt; unmittelbar an dem Gehöfte desselben liegt eine etwa 20 Fuß hinabgehende Tiefung, in welcher ein schöner klarer Quell entspringt, der ringsrum von einem schönen Gehölz umgeben ist. Diese Vertiefung nennt man die Wittewiwerskuhle und erzählt, daß hier vor Zeiten die witten wiwer gewohnt, die sich auch zuweilen sehen lassen. So wird namentlich erzählt, daß einst vor langen Jahren auf dem Hof des Bauern Stirnberg zu Riemke einer der Vorfahren des jetzigen Besitzers gewohnt, dessen Frau einmal nach ihrem Kindbette ausgegangen sei, bevor sie ihren Kirchgang gethan. Da habe sie denn eines Abends am Feuer gesessen und plötzlich seien zwei Witte wiwer hereingetreten, hätten sie mit Gewalt fortgeschleppt und mit sich in ihre Höhle entführt. Hier haben sie ihr verboten, jemals aus der Thür zu sehen, denn sonst würden sie ihr den Hals brechen. Das hat sie auch sieben Jahre hindurch geduldig getragen, aber endlich hat sie doch, als die witten wiwer einst abwesend waren. ihr Verlangen nicht zähmen können und die Thür aufgethan. Und wie sie da hinaustritt, hört sie auf einmal die Bochumer Glocken läuten und hat an dem wohlbekannten Klange sogleich gewußt, wo sie war, und so ist sie denn hinabgeeilt nach Riemke zum Hofe ihres Mannes. Der aber hatte indessen, da er seine Frau todt geglaubt, bereits eine andere gefreit, und als sie ins Haus getreten und diese gesehen, hat sie sich schweigend an den Herd gesetzt. Die Kinder jedoch haben sie sogleich erkannt und sich schmeichelnd an sie gedrängt, worauf die Stiefmutter ihnen geboten, von ihr wegzugehen, da das Bettelweib sie nichts anginge. Das hat sie nicht ertragen können und gesagt: >Wohl gehen sie mich mehr an als dich<, und gerade bei diesen Worten ist ihr Mann ins Haus getreten, hat sie freudig wiedererkannt und nun die erste neben der zweiten im Hause behalten. So hat sie denn noch einige Jahre bei ihm gelebt, aber nie eine andere Speise als >möre äppel< zu sich nehmen können. (...)« (Kuhn) »(...) Die Frau spann noch Garn zu zwei Laken für den Altar in der Eckelschen Kapelle, dann starb sie.« (Firmenich. Im Original in Riemker Mundart.)

Kuhn, Adalbert: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen, Leipzig 1859, S. 123f. (Nachdruck Hildesheim, New York 1979); Firmenich, Johannes Matthias: Germaniens Völkerstimmen Bd. 1, Berlin o. J. (1843), S 370
Lokalisierung der Örtlichkeiten:

1. Tippelsberg: (D), Nordrhein - Westfalen, Ruhrgebiet, 44807 Bochum - ­Riemke, *Tippelsberger Str. ( E: 376953 m / N: 5707513 m ). Der Tippels­berg liegt ca. 500 Meter nordöstlich von der Wittewiwerskuhle entfernt. Der Tippelsberg wird von der Stadt Bochum seit ungefähr 20 Jahren als Bauschuttdeponie genutzt und ist schon von weitem sichtbar.
2. Bauer Thiem: Heute Hof Tappe-Tiemann, *Tippelsberger Str. 116. Der Hof wurde 1825 errichtet und liegt ca. 300 Meter westlich von der Witte­wiwerskuhle entfernt.
( E: 376656 m / N: 5707763 m )
3. Wittewiwerskuhle: Auf einem der Felder gegenüber dem Hof Tappe - ­Tiemann lag die Wittenwiwerskuhle, deren Ausläufer noch heute hinter dem Haus *Tippelsberger Str. 103 sichtbar sind. Die eigentliche Wittewi­werskuhle lag ungefähr 50 Meter östlich unter der später verlegten *Tip­pelsberger Str. ( E: 376557 m / N: 5707761 m ).
4. Bauer Stimberg: Eigentlich Bauer Stemberg. Der zuerst 1486 urkund­lich erwähnte, heute nicht mehr vorhandene Hof Stemberg - einst der größte Hof Riemkes - hat ungefähr 1000 Meter westlich von der Wittewi­werskuhle, auf dem jetzigen Friedhofsgelände hinter der *Verkehrsstr. 49 gelegen ( E: 375414 m / N: 5707736 m).
5.Bochumer Glocken: Gemeint sein dürften die Glocken der Propsteikir­che St. Peter und Paul in der Bochumer Innenstadt, Ecke *Große Beckstr./ *Untere Marktstr. ( E: 376429 m / N: 5704974 m ). Die Kirche liegt ca. 2,5 Kilometer südlich von der Wittewiwerskuhle entfernt. Hinweise zu 4. u. 5: Uwe Cassel ( vormals Herne; unbekannt verzogen )
6.Eickeler Kapelle: Gemeint ist die ehemalige St. Johanniskirche aus dem 14. Jahrhundert. Sie war eine Filialkirche der Bochumer Propsteikirche St. Peter und Paul (s.o.). Wegen Bergschäden vor 1890 abgerissen, lag sie im Bereich der ehemaligen Brauerei Hülsmann in 44651 Herne-Eickel, *Eickeler Markt 1. Die Kapelle lag ca. 3,5 Kilometer nordwestlich von der Wittewiwerskuhle entfernt ( E: 373633 m / N: 5708633 m).
Hinweis zu 5: Wolfgang Viehweger, Herne, Bönninghauser Str. 16, Tel.: 02325-3 06 79.
Die Angaben entsprechen der Entfernung der Luftlinie; die GPS Koor­dinaten wurden nach WGS-84 von Prof. Schlosser eingemessen. Vgl. D. Sondermann, s.o., S. 110-115


Wir bitten die Herausgeber von Sagenbüchern, die in ihren Publikationen angeführten Stätten zu lokalisieren, und per GPS einzumessen. Die Daten sollten ( zentral ) gesammelt und Inte­ressenten zur Verfügung gestellt werden. Gerne leihen wir zu diesem Zweck ein GPS-Gerät aus. Bei Fragen und/oder Anregungen etc. wenden Sie sich bitte an das:


Institut für Erzählforschung im Ruhrgebiet
45529 Hattingen, Fährstr. 3, Tel.: 02324-98 31 26
( Dirk.Sondermann@gmx.de )










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