Wolfhard Schlosser Unter dem etwas provokanten Titel „Hille
2010“ statt
„Ruhr 2010“ soll der Frage nachgegangen werden, warum die Ruhr
überhaupt ‚Ruhr’
heißt. Wie viele andere Flüsse auch speist sich die Ruhr in
ihrem Quellgebiet
aus einer Vielzahl von kleinen Gewässern. Unter diesen ist die
Ruhrquelle am
Ruhrkopf weder der schüttungsstärkste noch der am weitesten
von der Ruhrmündung
entfernte Zubringer. Schüttungsstärke und Entfernung sind
aber meist diejenigen
Kriterien für die Übertragung des Namens auf den gesamten
Fluss. Weiter entfernt als die Ruhrquelle von ihrer
Einmündung in den Rhein entspringt die Hille, die auch eine
größere Schüttung
zeigt (Abb. 1). Auch das Flüsschen mit dem seltsamen Namen
‚Namenlose“ wäre ein
Kandidat, durchfließt doch ihr Wasser bis zum Rhein eine etwas
längere Strecke
als das der Ruhrquelle. Warum also ‚Ruhrgebiet’ oder
‚Ruhr-Universität Bochum’
und nicht ‚Hille-Gebiet’ oder ‚Namenlose Universität Bochum’?
Abb. 1 Vergleich der Schüttungsstärken von Ruhr und Hille
Abb. 2 Sonnenuntergang
(gelbe
Linie) vom Ruhrkopf aus über dem Kahlen Asten zur
Wintersonnenwende und
der Nordhelle zur Sommersonnenwende für die Zeit um Christi Geburt Abb. 3 Sonnenuntergang
(gelbe
Linie) zu den Sonnenwenden über den beiden markantesten Bergen der
Insel
Rheneia, gesehen vom höchsten Punkt der Insel Delos für 1100
v. Chr.
(Choulakas: Wintersonnenwende, Berg Rheneia: Sommersonnenwende)
Derartige Berg-Sonnen-Bezüge sind in der
europäischen Vorgeschichte nichts Ungewöhnliches. Ein
prominentes Beispiel
bietet Delos, ein karges Ägäis-Inselchen von nur 3,6 qkm
Fläche in der Nähe der
bekannten Ferieninsel Mykonos. Trotz seiner geringen Größe
ist es übersät mit
Tempeln und ein Anziehungspunkt für Touristen. Delos war der
griechischen
Mythologie zufolge der Geburtsort von gleich zwei Göttern,
nämlich des Apoll
und der Artemis. Die Insel wurde weit über den griechischen
Kulturraum hinaus
verehrt. Der Geschichtsschreiber Herodot [1] berichtet über
Gesandtschaften und
Opfergaben von jenseits der damals den Griechen bekannten Welt.
Während der
Perserkriege opferte sogar der persische General Datis auf Delos und
ließ ihre
Einwohner ungeschoren, obwohl er sonst alles Griechische auf seinem
Kriegszug
in Schutt und Asche legte. Jahrhunderte vor Herodot erwähnt Homer
[2] eine
astronomische Erscheinung, die diese Insel auszeichne. Über ihr
wende sich nämlich
die Sonne zweifach. An und für sich ist dies eine astronomische
Unmöglichkeit,
denn Delos liegt außerhalb der Wendekreise. Besteigt man je-doch
den Berg
Kynthos, den höchsten Punkt der Insel, so markieren in der Tat auf
der westlich
gelegenen Nachbarinsel Rheneia die beiden Berge Choulakas und Rheneia
die
Untergangspositionen der Sonne zu den beiden Wenden (Abb. 3). Das
entspricht
durchaus der Situation am Ruhrkopf (Abb. 2). Da man weder Berge versetzen noch Inseln
verschieben
kann, muss man sich auf die Suche machen, bis die
astronomisch-geografische
Situation zusammenpasst. Entsprechend wird dann die Wertigkeit des
Ortes
festgelegt (Ruhrquelle, Tempelinsel Delos). Diese Vorgehensweise
bezeichnet man
als ‚Domestikation der Landschaft’ [3]. Literatur [1] Herodot:
Historien (Hrsg. J. Feix). Artemis, München 1988 [2] Homer:
Odyssee (Hrsg. W. Schadewaldt).
Rowohlt, Hamburg 1984 [3] D.
Sondermann: Ruhrsagen. Henselowsky Boschmann, Bottrop 2005 |
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Wolfhard
Schlosser
Sagen
beschreiben häufig ein
reales Geschehen der Vergangenheit. Kann man die Sage lokalisieren, so
führt
dies vereinzelt zu erstaunlichen Ergebnissen. Hierzu zwei prominente
Beispiele. Nicht weit
entfernt vom
Kamener Autobahnkreuz liegt das Römerlager Oberaden. Es wurde um
Christi Geburt
angelegt und muß mit einer Fläche von mehr als einem halben
Quadratkilometer
eine beeindruckende Anlage gewesen sein. Der Pastor und Heimatforscher
Otto
Prein fand die ersten Spuren dieser römischen Befestigung im Jahre
1905. Eine
große Rolle bei der Wiederentdeckung spielte eine lokale
Goldfeuersage, die fast
zweitausend Jahre die Erinnerung an diesen Ort wachhielt. Zwei
Kilometer südwestlich des
Ortskerns von Seddin im Landkreis Prignitz (Bundesland Brandenburg)
befindet
sich das sogenannte Königsgrab von Seddin. Dieses Hügelgrab
aus der jüngeren
Bronzezeit – etwa dreitausend Jahre alt – ist mit 150 Metern
Durchmesser und
immer noch acht Metern Höhe eines der größten seiner
Art. In der
Umgebung erzählte man
sich über Generationen hinweg, daß in diesem Hügel ein
König namens Hinz
begraben sei, der in einem dreifachen Sarg aus Gold, Silber und Kupfer
ruhe.
Grabungen im späten 19. Jahrhundert förderten in der Tat
Gegenstände aus der
Bronzezeit zutage. Schließlich fand man auch die eigentliche
Grabkammer, in der
sich drei Urnen unterschiedlicher Qualität befanden. Die
wertvollste enthielt
den Leichenbrand eines Mannes, die beiden anderen den zweier Frauen.
Farbspuren
an den Wänden ließen erkennen, daß die Grabkammer
innen mit rot-weißen Mustern
geschmückt war. Dieser Fall
zeigt, daß sich
in der Bevölkerung über dreitausend Jahre die Erinnerung an
das Begräbnis eines
Fürsten der Bronzezeit gehalten hat. Interessant ist aber auch, in
welchen
Punkten sich die Sage vom König Hinz von den Grabungsergebnissen
unterscheidet.
Zunächst einmal war in der Bronzezeit die Leichenverbrennung
üblich und keine
Sargbestattung. Der dreifache Sarg einer einzelnen Person erweist sich
als ein
Ensemble von drei Urnen verschiedener Menschen. Statt in ‚Gold, Silber
und
Kupfer’ ruhten die Toten schließlich in deutlich schlichteren
Behältnissen aus
Bronze und Ton. Zusammenfassend
kann
man
feststellen,
daß die Sage gegenüber den archäologischen
Funden und Befunden ausschmückt
(Gold, Silber und Kupfer), verdichtet (auf die Hauptperson,
nämlich den
König) und sich den Gebräuchen der Zeit anpaßt
(Sarg statt
Leichenbrand). Ein
ähnliches ‚kollektives
Gedächtnis’ an herausragende Geschehnisse der Vorzeit
läßt sich möglicherweise
auch für Bochum feststellen. Abb. 1 zeigt die Verteilung
archäologischer Funde
im Stadtgebiet (ohne Wattenscheid), und zwar die Kleinfunde (Kreuze)
sowie die
drei großen Bochumer Bodendenkmäler. Dabei handelt es sich
um den Rest einer
großen Ellipse (1953 entdeckt bei der Anlage der
Katholikentagssiedlung,
Ellipsensymbol), den Bochumer Kreisgraben (1966 entdeckt, Kreissymbol)
sowie
den Rest einer rechteckigen Struktur (Quadrat), die beim Bau der
Autobahn A43 in
den Jahren 1969-71 zutage kam. Nun sind derartige Erdwerke, die ja
immerhin
einige zehn bis hundert Meter groß sind, in Europa nicht
unbekannt. So gibt es
ein elliptisches Bodendenkmal in Bayern und ein rechteckiges in
Tschechien. Es
ist aber schon ungewöhnlich, daß in Bochum Kreis, Ellipse
und Rechteck nur
einen guten Kilometer auseinanderliegen. Es fällt
auf, daß die
Kleinfunde wie auch die großen Bodendenkmäler eher im
nördlichen Stadtgebiet
liegen. Nimmt man nun das Bochumer Sagenbuch von Dirk Sondermann zur
Hand und
überprüft, an welchen Orten die dort aufgeführten Sagen
mit ‚archaischem
Charakter’ spielen – also solche, die beispielsweise von Werwölfen
und
dergleichen handeln –, so ergibt sich eine verblüffende
Übereinstimmung. Auch
diese treten gehäuft im nördlichen Stadtgebiet auf (Abb. 2).
Die Parallelität ‚Archaische
Sagen – Prähistorische Funde’ wird besonders deutlich, wenn man
die Verteilung
‚moderner Sagen’ betrachtet, also solche mit christlichem Hintergrund
oder mit
Bezug auf Personen der Geschichte (Abb. 3). Hier ist das Stadtgebiet
recht
gleichförmig belegt. Eine auffällige Häufung zeigt sich
nicht und schon gar
nicht eine Verteilung ähnlich der der archäologischen Funde. Unter den
drei
Bodendenkmälern ist sicher der Kreisgraben von Bochum-Harpen
besonders bemerkenswert.
Er wurde vor rund 7000 Jahren angelegt, etwa gleichzeitig mit hunderten
vergleichbaren Anlagen in Europa. Der Bochumer Kreisgraben ist der
westlichste
bekannte seiner Art in Kontinentaleuropa. Noch westlicher liegt ein
Kreisgraben
in Südengland. Er ist deswegen bemerkenswert, weil sich in dessen
Mitte die
berühmte Steinsetzung von Stonehenge befindet. Die Forschung
ist sich heute
weitgehend einig, daß die Kreisgrabenanlagen vornehmlich rituell
genutzt wurden,
also nicht profanen Zwecken wie etwa als Viehpferch oder
Befestigungsanlage
dienten. Diesem rituellen Bezug entspricht durchaus, daß noch
heute das in
seiner unmittelbaren Nähe gelegene Bockholt einen zentralen Punkt
des Bochumer
Maiabendfestes darstellt. Offensichtlich liegt der Grund zu diesem
Bochumer
Stadtfest tiefer als die ihm üblicherweise zugeschriebene
Verbindung zu einer mittelalterlichen
Auseinandersetzung zwischen Bochumern und Dortmundern um ein paar
Kühe. Die
Feier des ausgehenden April/beginnenden Mai ist ein
alteuropäischer Brauch. In
Deutschland ist es die Walpurgisnacht (30. April/1. Mai), im Baltikum
der Tag
des hl. Georg (23. April). In Irland heißt die
Frühlingsfeier Anfang Mai ‚Beltaine’,
was auch als wissenschaftliche Bezeichnung für dieses Fest
übernommen wurde. Nun
sind die Jahreszeiten und damit die mit ihnen verbundenen Feste an den
Sonnenlauf gekoppelt. In diesem Zusammenhang ist auffällig,
daß eine der
Erdbrücken des Bochumer Kreisgrabens zum Sonnenaufgang Anfang Mai
weist – eine
kalendarische Funktion dieses Erdwerks, die europaweit auch bei anderen
Kreisgräben zu beobachten ist. Zwei weitere
Argumente
sprechen für das hohe Alter des Bochumer Brauches. Zum ersten
mußte der
Eichbaum von den Bochumern ohne Pferde oder andere Zugtiere eingeholt
werden,
was bei einem mittelalterlichen Ursprung ungewöhnlich wäre.
Zum anderen wurde
bei dem Transport die Sonne angerufen (‚Sunne, Sunne, de Maibaum ist
usse’).
Das erinnert ebenfalls eher an eine rituell-kalendarische Bedeutung als
an einen
Viehdiebstahl. Literatur A.
Bornholdt: 600 Jahre Bochumer Maiabendfest. Bochumer
Maiabendgesellschaft,
Bochum 1988 K.
Günther: Die Abschlußuntersuchung am neolithischen
Grabenring von
Bochum-Harpen. Archäologisches
Korrespondenzblatt
3,
1973 D.
Sondermann: Bochumer Sagenbuch. Pomp Verlag, Essen 2003 D.
Sondermann: Ruhrsagen. Henselowsky Boschmann, Bottrop 2005
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